Atmosphären und klimatische Topografien. Luft-Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts

Atmosphären und klimatische Topografien. Luft-Kulturen des 19. und 20. Jahrhunderts

Organizer(s)
Falko Schnicke / Regina Thumser-Wöhs, Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Universität Linz
Location
Linz
Country
Austria
From - Until
09.12.2021 - 10.12.2021
Conf. Website
By
Julia Enzinger, Institut für Germanistik, Universität Wien

Dass das Reden und Nachdenken über Klima und Klimaveränderungen keine exklusiven Erscheinungen der Moderne oder gar des 20. und 21. Jahrhunderts sind, dürfte weithin bekannt sein. Seit Jahrtausenden beobachtet und dokumentiert der Mensch atmosphärische Phänomene, versucht ihr Zustandekommen zu erklären, Regelmäßigkeiten zu entdecken und ihre Einflüsse zu erfassen; daran hat sich bis heute nichts geändert. Was sich aber geändert hat und häufig vergessen wird: Unser Klimabegriff, seit Julius von Hanns maßgebender Definition (1883) verstanden als ‚Durchschnittswetter‘1, ist relativ jung und vergleichsweise beschränkt. Die längste Zeit wurde Klima weder als mathematisierbares Abstraktum verstanden, noch lag die Deutungshoheit bei den (Natur-)Wissenschaften. Vor allem für das 19. und frühe 20. Jahrhundert, als die systematische Klimaforschung noch mehr oder weniger in den Kinderschuhen steckte, wird nur zu gerne übersehen, wie breit gefächert die Vorstellungen von Klima waren und in welch unterschiedlichen Kontexten und Diskursen diese geprägt wurden.

Das Anliegen der von Falko Schnicke und Regina Thumser-Wöhs für das Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte veranstalteten Tagung, den sich wandelnden, kulturellen Deutungen der Klimawahrnehmung in eben diesem Zeitraum nachzugehen, setzte damit bei einer klimageschichtlichen Leerstelle an (zumindest im deutschsprachigen Raum)2, wobei der Vielschichtigkeit der Klima-Kulturen mit einer Bandbreite sich ergänzender Perspektiven begegnet werden sollte. Neben einer Fülle an Zuschreibungsformen und Wissensfeldern – von Kolonialismus und Medizin über Luftfahrt und Militär bis hin zu Psychiatrie und Religion – standen dabei Fragen nach klimaspezifischen Kulturtechniken, der sinnlichen Wahrnehmbarkeit sowie entsprechender „Luftakteur:innen“ im Vordergrund.

Schon der erste Vortrag lieferte ein anschauliches Beispiel für die Vielschichtigkeit des historischen Klimadiskurses und seiner Akteur:innen. FALKO SCHNICKE (Linz) verdeutlichte darin, dass bereits ein Jahrhundert bevor sich die Klimatologie als eigenständige Disziplin etablierte, sowohl Klimawandelphänomene als auch verschiedene Klimakonzepte Themen der öffentlichen Diskussion waren. Schnicke untersuchte in diesem Zusammenhang Klima-Meldungen in regionalen österreichischen und deutschen Tages- und Wochenzeitungen des frühen 19. Jahrhunderts und ging dabei interregionalen Bezügen nach, um zeitgenössische Klima-Vorstellungen auch außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses nachzuzeichnen. Die drei konkurrierenden Modelle, die er im Zuge dessen identifizierte – ein von der Sonne beeinflusstes Erdklima, die These regionenspezifischer, voneinander unabhängiger Klimata sowie die eines überregionalen Systems wechselseitigen Luftaustauschs –, sind nicht nur ein Beleg dafür, dass Klimawandelerscheinungen schon relativ früh sehr breit diskutiert wurden (in Literatur- und Modeblättern etwa), sie zeugen zudem vom Spekulationscharakter des populären Klimawissens, dem auch die öffentlichen Forschungsaufrufe, durchaus im Sinne einer citizen science, geschuldet seien.

Damit, welche Rolle citizen science und vor allem regionale Praktiken bzw. Netzwerke für die Sicherung des modernen Klimawissens spielten, beschäftigten sich NILS GÜTTLER (Zürich) und ROBERT-JAN WILLE (Utrecht) in einem gemeinsamen Vortrag. Anhand zweier wissenschaftsgeschichtlicher Fallstudien machten sie deutlich, dass sich die Entstehung einer „new level meteorology“ in Deutschland zwischen 1871 und 1933 nicht einfach auf die Formel eines scaling up von der lokalen auf die (inter-)nationale Ebene reduzieren ließe, wie es etwa Paul N. Edwards darstellt.3 Vielmehr komme es auf die „climate practices“ der Mesoebene an, wofür das Werken und Wirken Richard Aßmanns und Franz Linkes als beispielhaft gesehen werden könne: Zwischen landwirtschaftlichem Wetterverein und amateurbasiertem Gewitterwarndienst, zwischen Regionalmedien und lokalen Flugwetterwarten entwickle sich das vor allem praktische Wetter- und Klimawissen, das via königlich-preußischem Observatorium (Lindenberg) und meteorologischem Institut (Frankfurt) überregional Verbreitung fand und schließlich ‚verwissenschaftlicht‘ wurde. Die herausgearbeiteten Netzwerkdynamiken auf Mesoebene eröffneten zudem einen Blick auf entsprechende epistemische Objekte, etwa Mikroklimata, die weder in den Bereich lokalen Wetters noch globalen Klimas fielen und somit auch nicht auf diesen Ebenen hätten verhandelt werden können.4

Einer Art Spezialbereich praktischen Klimawissens widmete sich KAROLIN WETJEN (Kassel). Sie rekonstruierte das, was im Deutschen Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts als Tropenklima galt, und fragte dabei insbesondere nach der Bedeutung der Medialität in der Vermittlung und Generierung dieses Wissens. Anhand von Vorträgen und Vorlesungen, einschlägigen Fachartikeln und Handbüchern, Klimakarten und Ratgebern wies Wetjen nach, dass der Begriff hauptsächlich von drei Disziplinen geprägt wurde – Meteorologie, Geografie, Klimamedizin –, die eng mit dem Kolonial- und Hygienediskurs verwoben waren sowie mit zeitgenössischen Vorstellungen von „Zivilisation, Moral und Rasse“. Drei Beobachtungen waren dabei besonders aufschlussreich: Während die geografische Klimatologie das tropische Klima erstens abstrakt schematisierte und die Tropenmedizin dessen schädliche Auswirkungen auf Europäer:innen überwiegend statistisch erklärte, habe die mediale Öffentlichkeit mit ihrem Interesse an detaillierten Naturbeschreibungen dazu beigetragen, dass vor allem ältere, nämlich orts- und sinnesbezogene Klimakonzepte präsent blieben. Die öffentliche Diskussion habe zweitens massiven Anteil daran gehabt, das vermeintlich statische Tropenklima in Abgrenzung zum dynamischen Klima Europas als das Andere, Abnormale und Krankmachende zu stigmatisieren, obwohl sich in der Medizin längst das bakteriologische Paradigma gegen die Vorstellung pathogener Lüfte und Gewässer (Miasmen) durchgesetzt hatte. Die kolonialen Herrschaftsansprüche und Degenerationsängste, die sich darin ausdrückten, gingen drittens ab 1900 in eine Diskursivierung des Klimas als etwas lokal Beherrschbares über: Tropenhygienische Prävention betreffe nun nicht mehr nur die Lebensweise der Siedler:innen, sondern zunehmend auch Landschaftseingriffe und Städtebaumaßnahmen.

Sozusagen mit dem Gegenstück des krankmachenden Tropenklimas, der heilenden See- und Meeresluft Europas, befasste sich REGINA THUMSER-WÖHS (Linz). Am Beispiel von sogenannten Schiffssanatorien fragte sie nach der sinnlichen Wahrnehmung und Konstruktion heilender Luft-Räume zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dass es in Österreich-Ungarn und in ‚Deutschland‘ aufgrund der sozialpolitischen Situation lediglich bei der Planung solcher „schwimmender Therapieschiffe“ blieb, machte sie für die Fragestellung nicht weniger interessant. Mithilfe des gesundheitsgeografischen Konzepts der therapeutic landscapes, das sowohl die Darstellung realer und metaphorischer Landschaften als auch symbolische Raumkonstruktionen umfasst, zielte Thumser-Wöhs darauf ab, zum einen die sinnliche Erfahrung dieser medikalen Landschaften über die Meeresluft zu vergegenwärtigen, zum anderen ihre Aneignung als Raum der Heilung und Erholung nachzuvollziehen.5 Die vorgestellten Ergebnissen konzentrierten sich vor allem auf Zweiteres, unter anderem da die für den sinnesanalytischen Part relevanten Erfahrungsberichte nur schwer auffindbar gewesen seien. Als therapeutische Landschaft knüpften die Schiffssanatorien demnach an die Idee der Sommerfrische sowie an die frühen See- und Meeraufenthalte zu Kurzwecken an, wie sie ab dem 18. Jahrhundert zunächst in England, ab den 1870er-Jahren auch in Deutschland üblich waren. Anhand balneologischer Schriften und Zeitungsartikel ließ sich neben allgemeinen Anforderungen und Zuschreibungen an Luftkurorte auch die therapeutische Besonderheit der Schiffssanatorien herausarbeiten: Ihre Mobilität gewährte durch wechselnde Klimazonen und Aussichten eine Erholung für Körper und Sinne zugleich.

Mit einem gänzlich anderen Kapitel der Geschichte der Luft(räume) setzte sich MONIKA SZCZEPANIAK (Bydgoszcz) auseinander: Sie analysierte lyrische und bildliche Luftschiff-Darstellungen zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg, um der Frage nachzugehen, inwieweit sie die technologische und diskursive ,Eroberung‘ des deutschen Luftraums repräsentierten und mitgestalteten. Die zahlreichen Beispiele zeigten, dass Luft dabei ambivalent besetzt wurde: einerseits als erlösendes „Reich der Freiheit, Transzendenz und Utopie“, das militärische wie Naturbefreiung bedeutete, andererseits als von Technik und Kultur determinierter Raum, unfrei von den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Bedingungen, die das Leben auf dem Erdboden bestimmten. Die Luft sei damit, so Szczepaniak, als „sozialer Raum“ zu sehen, der Inklusions- und Exklusionseffekte (re-)produziere, aber auch als „topografische und atmosphärische Bedeutungsfigur“, mit deren Hilfe Stimmungen nicht nur abgebildet, sondern auch erzeugt werden. Für den Stimmungsbegriff knüpfte Szczepaniak an Gernot Böhmes Wahrnehmungslehre und die zentrale Kategorie der Atmosphäre an, die dort als „emotionale Tönung eines Raumes“ verstanden werde, als „kulturelles und soziales Stimmungsfeld“, das leiblich zu spüren sei.6 Zwar reichte die Zeit nicht, um diesen Punkt näher auszuführen, mit Blick auf die Aufbruchsstimmung und den „Schauer des Erhabenen“, die Luftraum und Luftschiff-Beobachter:innen gleichermaßen zu erfüllen schienen, überzeugte aber ein wahrnehmungsorientierter Ansatz, der auf die Doppeldeutigkeit des Atmosphären-Begriffs fokussierte.

MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) beschäftigte sich ebenfalls mit dem Zusammenhang von Luft und Stimmung, allerdings im Sinne witterungsbedingter Gemütsveränderungen. Das eher ‚experimentelle‘ Projekt kreiste um das Vorhaben, Psychiatrie, Religion und den Innsbrucker Föhnwind mittels assoziativer Fragen in eine „lokale Sinnes- und Umweltgeschichte“ einzubetten. Im Zentrum standen dabei die Fragen, welche psychischen, zum Teil religiös konnotierten Zustände dem Föhn im 19. Jahrhundert beigemessen wurden und welche Sinne er aktivierte. Dazu rekonstruierte Heidegger schlaglichtartig das zeitgenössische Föhnwissen auf einer breit angelegten Quellenbasis aus medizinischen, psychiatrischen, physikalischen Schriften, populärwissenschaftlichen Vorträgen, Unterhaltungsblättern sowie Krankenakten. Während die Physik die Wirkmechanismen des Windes auch Ende des 19. Jahrhunderts nicht erklären konnte, so zeigte sich, hielt sich die Zuschreibung einer deprimierenden, zu „Apathie und Beklemmung“ führenden Wirkung vor allem auf nervöse Menschen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Kulturgeschichtlich konnte Heidegger die Verknüpfung von Luft, Wind und seelischer Verfassung über Robert Burtons Anatomie der Melancholie (1621) bis zur hippokratischen Humoralpathologie zurückverfolgen. Inwieweit dabei auch religiöse Aspekte zum Tragen kommen, blieb etwas unscharf, soll aber noch in Verbindung mit einer Sinnesgeschichte erschlossen werden, die sich – im Anschluss an eine New History of Experience – nicht nur für die sinnliche Wahrnehmung des „synästhetischen Phänomens“ Föhn interessiere, sondern auch für damit verbundene religiöse Emotionen und Erfahrungen.

Der Zusammenhang von Wetterphänomenen und religiösen Emotionen war auch Gegenstand von SYLVIA WEHRENs (Hildesheim) Beitrag. Aus einer subjekttheoretischen und emotionsgeschichtlichen Perspektive untersuchte sie deutschsprachige Kinder- und Jugendtagebücher des 19. Jahrhunderts auf die Frage hin, welche Rolle Wetterwahrnehmungen für die Subjektivierung und die Erfahrung religiöser Gefühle spielten. Das Korpus umfasste ca. 30 Tagebücher vor allem protestantischer Jungen und Mädchen, die auf die Jahre 1830 bis 1860 datiert sind. Trotz der Vielfalt an Funktionen, die den Wetterbeschreibungen darin zukommen, konnte Wehren einige spannende Muster aufdecken: Neben geschlechterspezifischen Formen der Ich-Konstituierung durch unterschiedliche Beschreibungspraktiken – tagtäglich-protokollartig bei den Jungen, ereignishaft-poetisch bei den Mädchen –, dienten die Wetterdarstellungen beiden Geschlechtern gleichermaßen als Ausdrucksmittel, aber auch als Anlass religiöser Gefühle. Meteorologische und Himmelserscheinungen wie trübes Wetter, Vollmond oder warme Brisen stellten demnach innerlich Stimmungen her, die dann religiös gedeutet wurden, z. B. als Erfahrung von Demut, Ehrfurcht oder Hoffnung. Eine ausgeprägtere Variante dieser sinnstiftenden Funktion böten Anthropomorphisierungen, in denen Wetterphänomene als „Gottesphänomene“ oder „als Gott selbst“ betrachtet wurden (etwa die Mut gebende Sonne), sodass sich das Wetter letztlich auch als Medium des göttlichen Willens und der Nähe zu Gott ausnehme. Wieso das Wetter gegen Ende des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verlor – eine Schreiberin brandmarkte es explizit als „abgeschmacktes“ Thema –, blieb noch offen, ebenso die Frage nach dem tieferen Zusammenhang zwischen den Tagebüchern als besonderer Kommunikationsform und dem Wetter als wesentlichem Bestandteil bürgerlicher Konversationskunst.

Wetter und bürgerliche Konversationskunst – davon ging im Grunde auch MARGITTA MÄTZKEs (Linz) abschließende Tagungsbeobachtung aus: Bewusst provokativ fasste sie Quellen und Gegenstand der Veranstaltung unter das Motto „gehobenes Reden übers Wetter“. Damit bezog sie sich zwar in erster Linie auf die Feststellung, dass der Großteil des Materials der bildungsbürgerlichen science-to-public-Kommunikation bzw. der „Schnittstelle zwischen Pop- und Massenkultur einerseits, Wissenschaft und Dichtung anderseits“ entstammte. Ihre Anschlussfrage aber, welchen Bezug eine solche, partikuläre Klima-Kulturgeschichte zur aktuellen Auseinandersetzung mit dem Klima(wandel) beitragen könne, mündete in eine rege Grundsatzdiskussion über die Aufgaben, Grenzen und Möglichkeiten der Geschichts-, Geistes- und Kulturwissenschaften. Um jedoch (sinngemäß) mit Falko Schnicke von den Ansprüchen des Fachs zu denen der Tagung zurückzukehren: Wer die Vergangenheit nur auf die gegenwärtige Klimadiskussion hin befrage, verdecke die Differenzen. Und gerade darin liegt der Erfolg der Tagung: gezeigt zu haben, dass das, was im 19. und frühen 20. Jahrhundert unter Klima verstanden wurde, in den verschiedensten Bereichen und Disziplinen, aus den unterschiedlichsten Gründen und Perspektiven sowie in der Bandbreite öffentlicher – wenn auch überwiegend bildungsbürgerlicher –Kommunikation verhandelt wurde.

Angesichts dieser „Pluralität von Geschichten“ (Schnicke) verwundert es nicht, dass es in den Kommentaren und Diskussionsrunden hauptsächlich darum ging, wie man dieser Vielfalt noch mehr gerecht werden könnte. Einige Punkte wurden hier immer wieder genannt: Da Klima bis zum 20. Jahrhundert weniger global als lokal gedacht wurde, weniger institutionell als unter Mitwirkung der Öffentlichkeit beobachtet wurde und sowohl als datenbasiertes als auch menschenbezogenes Konzept existierte, scheinen zwei Ansätze besonders vielversprechend: eine Wissensgeschichte, die das Klimawissen nicht nur als „science to, sondern auch by public“ (Wille) ernst nimmt und zudem auf die Medienspezifik der Quellen eingeht, sowie sinnes- und körpergeschichtliche Zugänge, die sich stärker auf Wahrnehmungsquellen beziehen und verschiedenen Formen sinnlich-körperlicher Erfahrbarkeit von Klima nachspüren. Letzteres hängt auch mit der häufig festgestellten Persistenz älterer, insbesondere geografischer und medizinischer Klimavorstellungen zusammen: Die Idee von gesunden oder krankmachenden Lüften, von auf die Psyche schlagenden Winden, von Klima als Ort oder von klimaspezifischen Kulturunterschieden – sie alle kursieren bereits seit der Antike und bleiben trotz stetig neuer Kenntnisse bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen. Unter den Teilnehmer:innen herrschte deshalb Einigkeit, dass sich eine longue durée-Perspektive in manchen Fällen als produktiver erweise, vor allem auch, um die doch recht markanten Umbrüche zwischen mittelalterlichen und modernen Klimatheorien ab dem späten 18. Jahrhundert sowie nach Ende des Ersten Weltkrieges zu berücksichtigen. Eingehendere Parallelbetrachtungen der Wissenschaftsgeschichte bieten sich hier ebenfalls an: Angesichts der zunehmenden ,Verwissenschaftlichung‘ des Klimas um 1900 (in Sinne einer Disziplinierung) wäre es interessant, ob und wie sich diese auf kulturelle Deutungen auswirkt. Insgesamt vermittelten die Beiträge aber ein eindrückliches Bild der Reichhaltigkeit und Komplexität der Klima-Kulturgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die gegenüber früheren und späteren Zeiträumen bislang vernachlässigt wurde – völlig zu Unrecht, wie sich zeigte. Die abwechslungsreichen Fragestellungen und Perspektiven bestätigten zudem, dass einem so vielseitigen Gegenstand – bei allen Überschneidungen und Ergänzungen – nur aus vielseitigen Richtungen beizukommen ist. Alles in allem also eine gelungene wie anregende Veranstaltung – weit mehr als „gehobenes Reden übers Wetter“.

Konferenzübersicht:

Regina Thumser-Wöhs (Linz) / Falko Schnicke (Linz): Begrüßung und Einführung

Falko Schnicke (Linz): „...zwey entgegengesetzt[e] Atmosphären“: Interregionale Klimabeobachtungen im frühen 19. Jahrhundert
Kommentar: Martin Knoll (Salzburg)

Nils Güttler (Zürich) / Robert-Jan Wille (Utrecht): Between Weather and Climate: Scales of German Meteorology, 1871–1933
Kommentar: Georg Stöger (Salzburg)

Karolin Wetjen (Kassel): Das koloniale Klima. Wissen vom tropischen Klima in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Kommentar: Bernhard Gißibl (Mainz)

Regina Thumser-Wöhs (Linz): Frischluft – Bergluft – Seeluft: Therapeutic Landscapes
Kommentar: Eva Horn (Wien)

Monika Szczepaniak (Bydgoszcz): Deutsche Eroberung der Luft. Nationale und atmosphärische Diskurse am Beispiel von Zeppelin-Gedichten und Luftschiff-Ikonographie
Kommentar: Hubertus Büschel (Kassel)

Maria Heidegger (Innsbruck): „Vorzüglich wenn eine heilige Zeit oder der Südwind eintritt, ist sie mehr oder weniger verwirrt...“. Föhn, Religion und Psyche im Fokus der Tiroler Psychiatrie des 19. Jahrhunderts
Kommentar: Eberhard Wolff (Basel)

Sylvia Wehren (Hildesheim): Wetter, Wind und Luft als göttliche Zeichen. Religiöse Gefühlskonstruktionen über meteorologische Phänomene in Jugendtagebüchern des 19. Jahrhunderts
Kommentar: Dietlind Hüchtker (Wien)

Margitta Mätzke (Linz): Tagungsbeobachtung und Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Vgl. Julius von Hann, Handbuch der Klimatologie, Stuttgart 1883, S. 3: „Unter Klima verstehen wir die Gesamtheit der meteorologischen Erscheinungen, welche den mittleren Zustand der Atmosphäre an irgend einer Stelle der Erdoberfläche charakterisieren.“
2 Vgl. z. B. Martin Mahony / Samuel Randalls (Hrsg.), Weather, Climate, and the Geographical Imagination. Placing Atmospheric Knowledges, Pittsburgh/PA 2020; James Beattie u. a. (Hrsg.), Climate, Science and Colonization: Histories from Australia and New Zealand, London 2014; James Rodger Fleming / Vladimir Jankovic (Hrsg.), Osiris 26,1, Klima (2011); William B. Meyer, Americans and their Weather, New York 2000; Alain Corbin, La Pluie, le Soleil et le Vent. Une Histoire de la Sensibilité au Temps qu’il fait, Paris 2013; Lucian Boia, The Weather in the Imagination, London 2005; Vladimir Jankovic, Climate Clichés: Overvaluation, Fetishism and the Ideologies of “National Weather” in the Long Nineteenth Century, London 2014, https://www.academia.edu/6592112/Climate_ (06.01.22); Georgina H. Endfield / David J. Nash, ,Happy Is the Bride the Rain Falls On’: Climate, Health and ,The Woman Question’ in Nineteenth-Century Missionary Documentation, in: Transactions of the Institute of British Geographers 30,3 (2005), S. 368–386; Sandip Hazareesingh, Cotton, Climate and Colonialism in Dharwar, Western India, 1840–1880, in: Journal of Historical Geography 38,1 (2012), S. 1–17;
3 Vgl. Paul N. Edwards, A Vast Machine. Computer Models, Climate Data, and the Politics of Global Warming, Cambridge/MA 2010.
4 Hier folgen Güttler und Wille der Arbeit Deborah Coens, die die Entwicklung der modernen Klimatologie im Habsburger Reich als Geschichte politischer wie wissenschaftlicher scaling-Prozesse erzählt. Vgl. Deborah R. Coen, Climate in Motion. Science, Empire, and the Problem of Scale, Chicago and London 2018.
5 Vgl. Wilbert Wilbert M. Gesler, The Cultural Geography of Health Care, Pittsburgh/PA 1992; Ulrich Gebhard / Thomas Kistemann (Hrsg.), Landschaft, Identität und Gesundheit. Zum Konzept der therapeutischen Landschaften, Wiesbaden 2016.
6 Vgl. Gernot Böhme, Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt am Main 1995.


Editors Information
Published on
Contributor
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Additional Informations
Country Event
Conf. Language(s)
German
Language